Volkshochschule Ratingen 1985/86: Eine Arbeitsgruppe untersucht die Wirtschaftsgeschichte und -struktur des Angertales. Ihr gehörte auch Willi Böngten an, der als Heizer und Lokführer auf der Angertalbahn gefahren ist. Er schildert in einem Aufsatz seine Eindrücke.
Bei Begegnungen mit der Kalkbahn auf meinen Wanderungen durchs Angertal kommen mir unwillkürlich Gedanken an längst vergangene Zeiten. So betreibt die Deutsche Bundesbahn schon ein Menschenleben lang den Kalksteinverkehr zwischen dem größten Kalksteinbruch Europas bei Wülfrath und der Industrie im Ruhrgebiet. 17 km lang schlängelt sich das Schienenpaar im wechselseitigen Spiel mit der schnell dahinfließenden Anger. Tag undNacht rollen von großen Dieselloks gezogene Züge zu Tal. Man sagt dieser Kalkbahn nach, sie sei die ertragsreichste Güterzugstrecke in der westlichen Bundesrepublik. Der Lokführer ist heutzutage allein während seiner Dienstzeiten. Das ist eine der wenigen Änderungen auf der Kalkbahn gegenüber vergangenen Jahren. Weder Schaffner noch Zugführer helfen ihm bei seiner Arbeit. Und noch etwas vermisse ich: das Ertönen des Läutewerks als Warnung für übermütige Gleiswanderer.
Vor fast 20 Jahren sagte ich der Bahn ade. Heute denke ich: War das eine Plackerei! Der Dienst als Heizer auf der Dampflok verlangte oft alle physischen Kräfte. Nach sechsjähriger Ausbildungszeit ging es mir als Lokführer in dieser Hinsicht wesentlich besser. Die Angertal- oder Kalkbahn war die Heimatstrecke des Bundesbahn-Betriebswerkes Ratingen West. Zwölf Loks der Baureihe 94 bedienten ausschließlich diese Strecke. Die Loks waren klein - mit geringen Kohle- und Wasservorräten. Für die größeren Loks der Baureihe 50 der Dienststelle Düsseldorf-Derendorf, die später auf der Angertalbahn eingesetzt waren, mußten alle Brücken verstärkt werden.
40 Jahre zuvor - die Situation ist ganz anders. Der Dienst des Lokpersonals beginnt meist noch in der Nacht mit den Vorbereitungsarbeiten zu ständig wechselnden Zeiten. Alle Loks stehen über Kanälen. Mit Ölkanne und Lunte bewaffnet werden erst die fünf Achsen unter der Lok mit Öl versorgt. Bis zu 15 Liter Schmieröl werden benötigt. Während der Dienstzeit überwacht das Lokpersonal auf den Zwischenhalten alle Lager. Bei Bedarf werden sie nachgefüllt. Entsprechend der Leistung, die zu fahren ist, muß das Feuer bedient werden. Mit jeder Schaufel Kohlen steigt der Kesseldruck. Der Lokführer stellt inzwischen unter der Lok das Bremsgestänge ein. Und schon wird durch Signal der Drehscheibenwärter verständigt. Dieser dreht die Lok auf das Ausfahrgleis. Nach Verständigung mit dem Fahrdienstleiter des Bahnhofs wird der fahrplanmäßige Zug bespannt. Der Heizer hängt die Kupplung ein und verbindet mittels Luftschlauch die durchgehende Brems-Einrichtung. Nach der Bremsprobe ist der Zug fertig zur Abfahrt. Wegen der schlechten Kohle gleich nach dem Krieg kommt der Zug öfter vorzeitig zum Stehen. Dann muß "Dampf gemacht" werden, und das wiederholt sich einige Male, biswir endlich im Bahnhof Rohdenhaus ankommen. Gern würde sich der Heizer hier erst einmal ausruhen, aber der Wasservorrat muß schleunigst ergänzt werden. Nach der Übernahme eines neuen Zuges für Wülfrath beginnt dort der Rangierdienst. Dabei stellen wir einen Zug zusammen, mit dem wir in Richtung Ratingen West fahren. Gleich hinterder Ausfahrt fällt die Strecke stark ab. Bei der langsamen Fahrt können wir tief in den unter uns liegenden mächtigen Steinbruch schauen. Bagger und Kipplaster sehen wie Spielzeug aus. Weiter geht es durch eine Unterführung nach Flandersbach, vorbei an Feldern und sauberen Gehöften mit Entenweihern. An unbeschrankten Überwegen winken uns Kinder zu. In Flandersbach nehmen wir weitere mit Stroh beladene Waggons auf. Nach Verlassen des Bahnhofs Hofermühle passieren wir den Überweg von "Haus Anger". Dort bellen uns zwei Hunde nach, die im Sonnenlicht gedöst haben. Rechts taucht der Herrensitz von "Haus Anger" auf - mit der Mühlenruine, die sich in der Anger spiegelt. Links grüßt "Haus Hohenanger" von der Höhe, versteckt hinter hohen Buchen. Der Wald nimmt uns auf, das schönste Stück der Strecke beginnt. In vielen Windungen nähert sich hin und wieder die schnelle Anger den Gleisen. Das Tal wird zusehends enger. Von Ellenbecks Kotten steigt Rauch auf und kündigt uns die nahe Mittagszeit an. Am Haltepunkt Steinkothen lassen wir das Pfeifsignal ertönen. Der Schall bricht sich an den Hängen des Angertals. Opa Schlieper in der Tür seiner Müschenau und grüßt wie immer mit seinerMuzpfeife. Nochmals überfahren wir eine Angerbrücke und scheuen durch das Fenster der Kikenau. Das Tal weitet sich nun zur Aufnahme der Auermühle. Auf der Laderampe der Papierfabrik Bagel sitzen Männer und Frauen bei der Mittagspause. Die Dunkelheit eines Tunnels nimmt uns auf. Hinter dem Überweg "In der Brück" steigt das Gelände an zum Blauen See. Die Schranken des ersten gesicherten Bahnübergangs sind geschlossen. Die Pferde einer Koppel jagen im gestrecktem Galopp neben uns her, Auf dem Anschlußgleisder Spinnweberei Cromford stehen die am Morgen zugestellten Waggons wieder abholbereit. Hinter dem Cromfordpark werden Spaziergänger durch unser Signal gewarnt, den Überweg am Junkernbuschweg frei zu machen. Danach stellen wir das Läutewerk ab undlassen das schöne Angertal hinter uns. Im Bahnhof Ratingen West wird die Lok vom Zug getrennt. Nachdem die verbrauchten Kohle- und Wasservorräte ergänzt sind, ist wieder ein langer Dienst auf der Angertalbahn zu Ende.
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